Medien, Moral und Plagiate: Mit dem Feuer gespielt
Im Fall der stellvertretenden Chefredakteurin der Süddeutschen Zeitung empören sich Vertreter des Empörungsjournalismus über die Empörung alternativer Medien. Woher kommt der moralische Rigorismus?
Plagiatsvorwürfe und ein Drama um die stellvertretende Chefredakteurin der Süddeutschen Zeitung: Das Geschehen der vergangenen Woche können dazu dienen, über ein großes Problem zu sprechen. Nämlich über eine Medienlandschaft, die mit dem Feuer gespielt hat und sich nun darüber beschwert, dass es brennt.
Wer verstehen will, was diese Zeilen mit dem Fall um die stellvertretende SZ-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmidt zu tun haben, muss den Blick hin zum Epizentrum der öffentlichen Stimmungsmache lenken.
Aber der Reihe nach. Was ist passiert? Die SZ berichtete über Plagiatsvorwürfe gegen die AfD-Chefin Alice Weidel. Schnell stand der Vorwurf einer politisch motivierten Kampagne im Raum. Anfang Februar machte dann die Nachricht die Runde, wonach Föderl-Schmidt plagiiert habe. Das Blatt gab rasch bekannt, Föderl-Schmidt werde sich vorläufig „aus dem operativen Tagesgeschäft der SZ zurückziehen“. Ausgegangen waren die Enthüllungen zu Föderl-Schmidt von dem alternative Medienportal NiUS. Dahinter steht der ehemalige Bild-Chef Julian Reichelt. Schnell wurden auch in der Causa Föderl-Schmidt Vorwürfe einer gezielten Kampagne laut. Dieses Mal aber vonseiten des Mainstreams. Der Grund: Die Empörung über die mutmaßlichen Plagiate der SZ-Frau, die, Erwartungsgemäß von jener Seite kam, die der SZ und dem Medienmainstream kritisch gegenüberstehen. Dann: Ein Drama um Föderl-Schmidt. Ein Selbstmord wurde angenommen. Es gab eine intensive Suchaktion der Behörden, Föderl-Schmidt wurde lebend gefunden.
Journalismus und die Empörungsrealität
Zu dieser Zeit setzten dem Lager des Mainstreams Angehörige ihrerseits zur Empörung an. Tenor: Der Hass und die Hetze im Netz und das Vorgehen von NiUS hätten Föderl-Schmidt in eine aussichtslose Lage getrieben“. Ein schwerer Vorwurf. Doch er trägt nicht zu der Wurzel des Übels. Wer sich die Mühe macht und in die Tiefen der heutzutage omnipräsenten Empörungsrealität hinabsteigt, wird erkennen: Die Ursachen für das Drama um die SZ-Frau liegen verwurzelt innerhalb der Leitmedien. Die Geister, die sogenannte Qualitätsmedien gerufen haben, befeuern nun eine Dynamik, die sich gegen ihre Beschwörer richtet. Große Medien haben nämlich über Jahrzehnte mit dem Feuer der Moralvorwürfe „Journalismus“ betrieben – bis zum Exzess. Jetzt jammern sie über die Hitze, die das entfachte Feuer erzeugt. In Anlehnung an den Soziologen Pierre Bourdieu lässt sich sagen: Die Halter des Monopols auf öffentliche Empörung stellen mit Empörung fest: auch andere können sich empören.
Um die Bedingungen eines „Journalismus“ zu erfassen, der sich in seiner eigenen Maßlosigkeit und Triebhaftigkeit selbst zerstört, sei an die Erkenntnisse des Soziologen Niklas Luhmann erinnert. In seinem Grundlagenwerk zur Realität der Massenmedien verwies Luhmann darauf, dass einer der „Selektoren“ für Massenmedien „Normverstöße“ sind. Insbesondere, so Luhmann, seien darunter „Moralverstöße“ zu verstehen. Nach Worten des Soziologen nehmen von Medien öffentlich gemachte Moralverstöße den „Charakter von Skandalen“ an. „Das verstärkt die Resonanz, belebt die Szene“, bemerkt Luhmann. „Im Falle von Skandalen kann es ein weiterer Skandal werden, wie man sich zum Skandal äußert. Die Massenmedien können durch solche Meldungen von Normverstößen und Skandalen mehr als auf andere Weise ein Gefühl der gemeinsamen Betroffenheit und Entrüstung erzeugen.“ Bei der Skandalisierung durch Medien gilt es nach Luhmann zu beachten, dass die Skandalisierung oft deshalb funktioniert, weil der „Gesamtumfang“ der jeweiligen als „Moralverstoß“ angeprangerten Übertretung einer Person in der Gesellschaft nicht bekannt ist. Und genauso gelte es zu beachten, dass weder die skandalisierenden Medien noch sonst jemand in der Gesellschaft genau wüssten, „wie andere in entsprechenden Fällen sich selbst verhalten würden. Wenn aber Verstöße (und: entsprechend ausgewählte Verstöße) als Einzelfälle berichtet werden, stärkt das (…) die Entrüstung (…).“
Erkenntnisse
Aus den hier zitierten Ausführungen lassen sich wichtige Erkenntnisse ableiten. Erstens: Die Funktionsweisen der Medien bedingen Skandalisierung. Je größer ein Skandal ist oder als solcher dargestellt werden kann, umso stärker wird die Anschlusskommunikation ausgeprägt sein. Daraus ergibt sich: Medien wälzen Skandale gerne aus. So lassen sie etwa Experten zu Wort kommen, die den Skandal einordnen. Dann lassen andere Medien andere Experten zu Wort kommen, die etwa die Einordnungen der anderen Experten kritisieren. Ein lautes Rauschen entsteht, dass viel Aufmerksamkeit erzeugt. Und von Aufmerksamkeit leben die Medien. Zweitens, daraus abgeleitet: Wenn Medien über einen Moralverstoß berichten, geht es folglich nicht darum, dass sie frei von eigenen Interessen diesen Moralverstoß thematisieren. Sie haben ein ureigenes, ja: systemisches Interesse, laut klappernd auf den Moralverstoß aufmerksam zu machen. Drittens: Medien wollen eine gemeinsame öffentliche Entrüstung erzeugen, denn daraus entsteht, wie gesagt, erhöhte Aufmerksamkeit, die Medien benötigen – dieses Vorhaben steht einer nüchtern, abwägenden Berichterstattung immer wieder diametral gegenüber. Viertens: Von Medien präsentierte Skandale und Moralverstöße ziehen ihre Kraft aus der Selektion und dem Wissen, dass im Dunkeln bleibt, wie viele andere Bürger ebenfalls den vorgeworfenen Moralverstoß begangen haben. Konkret: Wenn morgen herauskommen würde, dass 10.000 Prominente und Millionen „normale“ Bürger plagiiert haben, verlöre der Moralverstoß „Plagiat“ den Moment des Skandalösen. Die „Taten“ sind quasi zur Norm geworden.
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Ein Moral-Kult, von blindem Eifer getrieben
Was passiert nun in einem derart ausgerichteten Mediensystem, wenn sich darin Journalisten bewegen, die aufgrund ihrer Sozialisation eine Disposition zu einem bisweilen furchtbaren moralischen Rigorismus hegen? Kurz: Aus Untersuchungen zur Sozialstruktur innerhalb der Medien ist bekannt, aus welchen Schichten Journalisten in überwiegender Mehrzahl stammen. Es ist die „veritable Mittelschicht“. Wer diesen Fakt in die Erkenntnisse Bourdieus zu seinen „Habitus-Studien“ einbettet, gelangt zu folgender Einsicht: Der journalistische Blick ist tendenziell durch Verhaltensdispositionen geprägt, die auf den vorherrschenden Habitus innerhalb der Medien zurückzuführen sind. Es geht, vereinfacht gesagt um den „Mittelschichtshabitus“. Und dessen Träger haben zumindest in einer gewissen Tendenz einen Hang zur relativ naiven, kritiklosen Anerkennung der vorherrschenden Ordnung entwickelt. Und: Nicht wenige von ihnen legen ein teilweise fast schon fetischhaftes Festhalten an Normen und Regeln an den Tag. Pointiert gesagt: Erstmal in „Amt und Würde“, fühlt sich so mancher Journalist, durch seinen Habitusantrieb bedingt, als Sittenwächter der Gesellschaft. Der moralische Zeigefinger, wie ihn manchen Medien den Rezipienten geradezu direkt ins Gesicht drücken, ist im Journalismus zu oft die Manifestation eines habitusgetriebenen, überbordenden Moral-Kults, der in seinem blinden Eifer gar nicht erkennt, wie kleingeistig, kleinkariert und kleindimensioniert sein Moralgeschrei ist. Hinter diesem Verhalten steckt eine Art bewusste-unbewusste „Strategie“. Sie basiert auf einem insbesondere für den Habitus der Mittelschicht typischen Wunsch: Als „gutes“ Gesellschaftsmitglied „dazuzugehören“ – mit dem Hintergedanken, so auch die Option zu haben, weiter „nach oben“ zu kommen. Mit diesen Antrieben verbunden ist eine Tendenz, sich mit den „von oben“ vorgegebenen Normen und Wirklichkeitsvorstellungen zu identifizieren. In einer fast schon tragisch-komischen Überzeichnung ihrer eigenen moralischen Integrität, bemerken viele so ausgerichtete Journalisten nicht einmal, wie lächerlich sie sich als die selbsternannten Hohepriester gesellschaftlicher Moral machen. Eine wichtige Frage lautet: Erfüllen die modernen Moralapostel selbst die Ansprüche, die sie öffentlich an andere richten? Hier bedarf es keiner Wissenschaft. Der gesunde Menschenverstand reicht aus. Journalisten sind Menschen. Menschen übertreten Gesetze, setzen sich über Normen hinweg und sind unmoralisch. Die einen offen, die anderen, die die Moral von der Kanzel zu predigen pflegen, eben eher nur klammheimlich. Der „klitzekleine“ Diebstahl im Geschäft? Der „kleine“ Versicherungsbetrug“? Die Bruch des Ehegelöbnisses? Einem Mitmenschen in Not die Hilfe verweigern, obwohl man unterstützen könnte? Eine Arbeit voller Plagiate abgeliefert? Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein, heißt es in der Bibel. Journalisten, in ihrer Moralbesoffenheit, setzen gerne zur öffentlichen Steinigung an. Sie sehen den Splitter im Auge ihres Bruders aber vergessen den Balken im eigenen.
Journalismus wie eine Bürgerwehr in einem schlechten Film
Was also passiert in einem Mediensystem, wenn sich darin Journalisten ausbreiten, die so funktionieren, wie hier beschrieben? In solch einem System kommt die so wichtige journalistische Norm „Objektivität“ unter die Räder. Moralanklage sticht Objektivität. Ein solches Mediensystem agiert wie eine Bürgerwehr in einem schlechten Film, die in ihrem Übereifer auf jeden Jagd macht, den sie aus Überzeugung als „Täter“ betrachtet. Ein moralgetriebene Berichterstattungsexzess ist nicht zu leugnen. Während der Harz-IV.-Zeit haben Journalisten Arme, die sich aus niederen Motiven oder aus finanzieller Not ein paar tausend Euro vom Amt erschlichen haben, zum öffentlichen Hassobjekt degradiert. Oder: Die publizistische Jagd auf Ex-Bundespräsident Christian Wulf, Uli Hoeneß, Jörg Kachelmann und jüngst Ulrike Guérot. Nicht zu vergessen: „Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen“ – so schrieb es der Spiegel-Kolumnist Nikolaus Blome 2020. Adressiert war der Spruch in Richtung der Ungeimpften. Ein Aufruf zur öffentlichen Beschämung einer Gruppe von Menschen, die sich gegen eine medizinische Behandlung entschieden habe? Abgesegnet durch die Redaktion und bis heute nicht distanziert davon.
Die Süddeutsche Zeitung ist kein Chorknabe
Und jetzt zur Süddeutschen Zeitung. Alleine in der Zeit von März 2023 bis 9. Februar finden sich im SZ-Online-Archive 18 Artikel, die den Münchner Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen namentlich erwähnen. Die Artikel tragen Überschriften wie: „Die Realität des Professor Meyen“, „Wegen Engagements bei Querdenker-Zeitung: Münchner Professor droht Disziplinarverfahren“, „Umstrittener Professor äußert sich zu Vorwürfen“ usw. Der Berichterstattungseifer ging gar soweit, dass laut Meyens Aussage, ein SZ-Redakteur ohne sich vorzustellen in seine Vorlesung begeben hat. Der Umgang der SZ mit politisch unliebsamen „Meinungsabweichler“ ist kein Einzelfall. Die Zeitung bezeichnete etwa den coronakritischen Wirtschaftswissenschaftler Stefan Homburg in einer Überschrift als „Professor Dr. Verschwörung“. Den ehemaligen Leiter eines bayerischen Gesundheitsamtes, Friedrich Pürner, der sich für eine behutsame Umsetzung bestimmter Coronamaßnahmen ausgesprochen hat, führt das Blatt als „höchst umstritten“ an. Zum „Journalismus“ der SZ ließe sich noch viel sagen, von der Berichterstattung in Sachen Hubert Aiwanger ganz zu schweigen. Deutlich wird: Die Zeitung ist kein Chorknabe, wenn es um das Austeilen geht.
Kein Freispruch vom „politischen Verdacht”
Der Journalist Stefan Niggemeier hat sich auf dem Portal Übermedien mit der Kontroverse um Föderl-Schmidt auseinandergesetzt. Sein Focus liegt auf dem Umgang der SZ mit den Plagiatsvorwürfen gegen Weidel. Seiner Einschätzung nach, habe die SZ sachlich über Weidel berichtet. Erwartungsgemäß lautet sein Fazit: „die Vorwürfe, die der SZ und in besonders hemmungsloser Form Alexandra Föderl-Schmidt im Zusammenhang mit dem Plagiatsverdacht gegen Alice Weidel gemacht werden, sind haltlos.“
Das ist eine gefällige Betrachtung. Zwei Aspekte übersieht Niggemeier nämlich. In einer gerade auch im Hinblick auf die AfD hochgradig durch Qualitätsmedien emotionalisierten Öffentlichkeit, sind Plagiatsvorwürfe gegen die Vorsitzende der Partei wie ein Funke, der die aufgeladene Stimmung entzündet. Bereits nüchtern vorgetragene Vorwürfe reichen aus, um Sympathisanten der Partei auf die Barrikaden zu treiben. Und für die Kritiker der AfD werden solche Vorwürfe ohnehin dankbar aufgenommen und an der ein oder anderen Stelle mit Emotionalität frisiert. Mit anderen Worten: Diese Grundsituation darf zwar kein Hindernis zur Berichterstattung sein. Aber in der Analyse gilt zu beachten: In dieser Situation reicht eine sachliche Berichterstattung nicht aus, um einer Zeitung von einem im Raum stehenden politischen Verdacht frei zu sprechen. Schließlich weiß die Zeitung um die Wirkung der Berichterstattung.
Noch ein Aspekt drängt sich auf: Warum werden in der SZ Plagiatsvorwürfe gegen Weidel erhoben? Zugespitzt: Das Blatt hätte diese Vorwürfe ja auch gegen seine stellvertretende Chefredakteurin erheben können. Vor allem aber auch: Warum erhebt die SZ gerade jetzt die Vorwürfe gegen Weidel? Das heißt zu einer Zeit, in der AfD-Gegner über Demonstrationen „gegen rechts“ versuchen, Momentum gegen den politischen Gegner zu gewinnen. Überhaupt: Zuerst die Berichterstattung über Aiwanger, dann über Weidel, aber auch über zahlreiche weitere Personen - wie aufgezeigt -, deren politische Ansichten der SZ quer zu liegen scheinen.
Bitte Journalismus, kein Moralaposteltum
Das Bild, das die SZ hier abgibt, lässt sich getrost als katastrophal bezeichnen. Föderl-Schmidt trägt als stellvertretende Chefredakteurin Verantwortung für die „Berichterstattung“ im Blatt. Die Empörung, die ihr entgegengeschlagen ist, ist die Frucht einer Medienlandschaft, die den Empörungsjournalismus etabliert hat. Teile der Öffentlichkeit und alternative Medien reagieren eben mittlerweile so, wie es die Leitmedien praktizieren. Ein Journalismus, der sachlich zeigen, abbilden, darstellen soll, ist in weiten Teilen der so genannten Qualitätsmedien durch einen hochgradig weltanschaulich kontaminierten Journalismus ersetzt worden. Mit ihm einher geht eine „Berichterstattung“, die den moralische Furor zum handlungsleitenden Element macht. In Redaktionen sitzen zu viele Weltbildjournalisten, die versuchen, ihre eigene Wut gegen politische Meinungsabweichler zur Wut der Öffentlichkeit zu machen. Diese Wut verbindet sich mit einem moralingeschwängerter Erregungsjournalismus.
Dabei gehören, bei Lichte betrachtet, Plagiatsvorwürfe wohl zu den „Moralverstößen“ am Anfang der Moralskala. Wenn der einzige Moralverstoß eines Menschen in seinem Leben darin liegt, plagiiert zu haben, dann kann er kein so schlechter Mensch sein. Aber in einer Medienwelt, die aus den dargelegten Gründen gleich Zeter und Mordio schreit, ist das eben anders. Vielleicht wird in den Redaktionen jetzt verstanden: Aufgaben von Journalisten ist Journalismus. Dem steht ihr Moralaposteltum entgegen.