„In ihren vom Hass dumm gewordenen Gesichtern“
Publizistische Entgleisung in der Berliner Zeitung. Corona-Maßnahmenkritiker, die an Demonstrationen teilgenommen haben, werden pauschal als „Antisemiten“ bezeichnet
Kommentar
In der Berliner-Zeitung wurden am Wochenende alle Demonstranten, die an Demonstrationen gegen die Corona-Politik teilgenommen haben, als „Antisemiten“ bezeichnet. Eine publizistische Entgleisung, die dringend von der Redaktion aufgearbeitet werden muss.
Wann hören Medien damit auf, Bürger, die im besten demokratischen Sinne gegen die Maßnahmenpolitik auf die Straße gegangen sind, pauschal öffentlich zu verunglimpfen? Die Frage muss offensichtlich selbst jetzt noch, nachdem die „Corona-Krise“ schon lange zu Ende ist, gestellt werden.
In einem Beitrag, der die aktuellen Geschehnisse zwischen Israel und Palästina aufgreift und auf das Thema Antisemitismus fokussiert, schreibt der Kolumnist Thilo Mischke Folgendes:
Aber der Hass, er hat dieselbe Wurzel: Antisemitismus. Die Anti-Corona-Demonstranten sind ebensolche Antisemiten. Der Attentäter von Halle: Antisemit. (…) Dieser Antisemitismus ist kein muslimisches Problem in Deutschland, es ist ein Problem der meisten Deutschen. Jeder, der während der Corona-Pandemie auf diesen unsäglichen Demonstrationen war, die frauenfeindlich, antidemokratisch, antisemitisch waren, die Neonazis angelockt haben, macht sich mitschuldig. Jeder, der die Lügen dieser Demonstrationen weiterverbreitet, macht sich mitschuldig.
Zur „Begründung“ seiner Sicht liefert der Autor die folgenden Zeilen:
Noch vor anderthalb Jahren, nicht vor 80, standen 50.000 Menschen am Brandenburger Tor, und in ihren vom Hass dumm gewordenen Gesichtern war auch der Judenhass zu erkennen. Der deutsche, über Jahrhunderte gegärte, garstige Judenhass. Er platzte aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Keine Neonazis, keine radikalen Muslime, keine Pubertierenden. Nein, Ursulas und Gerts, die in ihren Softshell-Jacken Transparente trugen, die vor dem großen Reset warnten. Die antisemitischen Karikaturen vor sich hertrugen, um vor den Pharmajuden zu warnen. Menschen, die tatsächlich aus der Mitte der Gesellschaft stammen, die mir von Rothschild erzählen und mir erklären, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen ja „von Juden“ durchsetzt sei.
Halten wir fest: Der Kolumnist will bei 50.000 Bürgern „vom Hass dumm gewordenen Gesichtern“ und auch „Judenhass“ erkannt haben. Alleine schon in Anbetracht einer solchen Aussage: Wo waren die Alarmsirenen in der Redaktion? Ausgefallen?
Zur „Untermauerung“ seiner Argumentation führt der Autor an:
Sie glauben mir nicht? Gehen Sie auf YouTube; nicht nur ich habe dazu einen Film gemacht, eine Reportage geschrieben. Zehntausende Menschen auf der Straße, die völlig enthemmt ihren Antisemitismus herausschrien. Zehntausende.
Dieser Beitrag in der Berliner Zeitung will „klare Kante“ zeigen. Er will mit deutlichen Worten – zu einem schwierigen Thema - Position beziehen. Aber er ist auf schlimme Weise über das Ziel hinaus geschossen.
In der schwersten Grundrechtskrise der Bundesrepublik sind Menschen aus unterschiedlichen Altersgruppen, Milieus und mit unterschiedlichen politischen Einstellungen im gesamten Land auf die Straße gegangen. Sie haben auch dagegen demonstriert, dass Mitmenschen in Heimen und Einrichtungen isoliert und nicht selten alleine, ohne ihre Angehörigen, sterben mussten. Das war: Unmenschlich!
Warum diese Menschen „Antisemiten“ sein sollen, erschließt sich nicht. Genauso wenig, wie sich erschließt, warum generell alle (!) „Anti-Corona Demonstranten“ „Antisemiten“ sein sollen.
Und das ist die journalistische Entgleisung.
(Foto von Kajetan Sumila auf Unsplash)
Der Verweis auf ein paar Demonstrationsteilnehmer, die vor dem „großen Reset warnten“, der Verweis auf YouTube Videos und selbst der Verweis auf vielleicht von einzelnen Demonstrationsteilnehmern getätigten Aussagen, die gegebenenfalls auf Antisemitismus basieren: Das ist, aus journalistischer Sicht betrachtet, kein Beweis für die angeführte pauschale Behauptung.
Liefert ein Autor solch einen Text ab, dann hat sich eine Redaktion dem Text professionell anzunehmen und ihn im Hinblick auf die hier besprochene Stelle zurückzuweisen. Macht die Redaktion das nicht, dann hat sie ihren redaktionellen Auftrag nicht erfüllt. Bisweilen müssen Redaktionen Journalisten vor sich selbst schützen. Die Redaktion der Berliner Zeitung hat mit der Veröffentlichung dieses Textes dem Autor, der immerhin in seinem Profil angibt, „Journalist des Jahres“ gewesen zu sein, keinen Gefallen getan – und auch nicht ihrem Medium.
Was bedeutet es für die Reputation der Berliner Zeitung, wenn sie einen derartigen Beitrag veröffentlicht? Was bedeutet es für den Antisemitismus-Vorwurf im Allgemeinen, wenn er dort verwendet wird, wo er nicht zutrifft? Es verhält sich wie mit der „Nazi-Keule“: Wenn alle, die eine politisch unliebsame Meinung vertreten, als „Nazis“ bezeichnet werden, entwertet sich der Vorwurf mit der Zeit selbst. Was schlimme Folgen hat, wenn es darum geht, das Verhalten von echten Nazis anzuprangern. Und so ist es auch mit dem inflationären Gebrauch des Begriffs Antisemitismus: Trifft er faktisch, nachweisbar und überprüfbar zu, dann ist das anzusprechen und anzuprangern. Ist das nicht der Fall und wird der Vorwurf pauschal dennoch erhoben, ist dem eigentlichen Anliegen, gegen Antisemitismus Stellung zu beziehen, ein Bärendienst erwiesen.
Die Redaktion der Berliner Zeitung sollte zügig intern klären, wie es zur Veröffentlichung dieses Beitrags gekommen ist. Wer in der Redaktion hat ihn redigiert und grünes Licht gegeben? Was waren die Gründe? Dann sollte die Zeitung öffentlich Stellung beziehen und dafür Sorge tragen, dass so etwas nicht mehr vorkommt.
Die Berliner Zeitung hat sich im Hinblick auf die Aufarbeitung der Corona-Krise wohltuend hervorgetan. Sie hat viele Beiträge veröffentlicht, die sich im Sinne eines kritischen Journalismus von anderen Medien abheben. Die Zeitung hat auch den Hass und die Hetze gegen Maßnahmenkritiker kritisch thematisiert. Gerade auch deshalb drängt sich die Frage auf: Warum diese publizistische Entgleisung?