Angst zu lachen
Eine flott angespitzte politische Kritik von Gottschalk führte zu einer Art Live-Sozialexperiment bei „Wetten, dass..? Das soziale Phänomen der „Präferenzverfälschung“ blitzte durch.
„Bergab geht sogar in der Schweiz von alleine. Wir brauchen die Hilfe der Politik, dass es bergab geht“ – das sagte Thomas Gottschalk am Samstagabend bei Wetten, dass..?. Die Reaktion der Gäste auf der Couch, aber auch des Publikums gewährt tiefe Einblicke in die deutsche Seele. Und sie wirft die Frage auf: Wie groß ist die Angst der Deutschen, frei zu sagen, was sie denken? Um eine unter Berücksichtigung des vorherrschenden Zeitgeistes sehr zurückhaltend formulierte Antwort vorweg zu geben: Wir haben es in Deutschland mit einer politisch zutiefst verunsicherten Gesellschaft zu tun. Und das nach fast 80 Jahren Demokratie.
Der Grad der politischen Mündigkeit in einer Demokratie zeigt sich auch darin, wie frei, wie selbstbewusst Bürger die eigenen politischen Gedanken öffentlich artikulieren und vertreten. Die „Artikulation“ des eigenen politischen Standpunkts muss dabei nicht zwangsläufig in Worten erfolgen. Auch über Mimik, Gestik und weitere Ausdrucksformen kann politisch kommuniziert werden. Lachen gehört auch dazu. Wie reagieren Bürger bei einem Witz über den Staat? Wie reagieren sie, wenn jemand die Politik mit bissig ironischem Unterton kritisiert? Aber vor allem: Wie reagieren sie wo? Reagieren sie in vertrauter Runde anders als in der Öffentlichkeit? Sagen sie zu Hause am Küchentisch, was sie wirklich über die Politik denken, aber draußen legen sie sich selbst – aus „Gründen“ - einen Maulkorb an? Wenn dem so sein sollte: Es wäre ein Desaster für die Demokratie.
5 Sekunden Angst
Gottschalks von mittlerer Bissigkeit geprägte Aussage hat dazu geführt, dass dem aufmerksamen Betrachter eine Art „Live-Sozialexperiment“ vor Augen geführt wurde. Das Ergebnis gibt den Blick frei auf eine Gesellschaft, die Angst davor hat, politisch so Stellung zu beziehen, wie sie möchte. Zentral für den Beobachter des Geschehens ist die Zeitspanne, nachdem Gottschalk den Punkt hinter seine Aussage setzt. Nahezu 5 Sekunden dauert es, bis sich lautes Lachen, rasender Applaus und Jubel den Weg durch die Baden-Arena in Offenburg bahnt. 2500 Menschen waren vor Ort. Jeder Statistiker weiß: Zumindest in Bezug auf die Quantität handelt es sich dabei um eine repräsentative Zahl. 5 Sekunden braucht es in Deutschland, bis 2500 Bürger sich durchringen können, über einen flott angespitzte politische Kritik zu lachen. 5 Sekunden, aus denen kritische Soziologen, Sozialpsychologen und Psychologen mehr rauslesen können als aus so manchem Fachbuch. Wie unter einem Brennglas kommt zum Vorschein: Die deutsche Gesellschaft steckt im Hinblick auf ihr politisches Verhalten in einem Zwangskorsett.
Ein Grund: Die Teilnahme am sogenannten freien politischen Diskurs gleicht seit langem dem Gang durch ein Minenfeld. Jede mehr oder weniger prominente Person weiß davon. Ein falsches Wort und: Karriere aus. Dass aber selbst innerhalb der Durchschnittsgesellschaft eine regelrechte Angst nicht nur vor dem „falschen“ politischen Wort, sondern sogar vor der „falschen“ politischen Reaktion vorherrscht, verweist auf einen schweren Deformationszustand unserer Demokratie auf Geistesebene.
(Bildrechte: ZDF, Fotograf: Sascha Baumann)
Politische Emotionalität an der Leine
Deutschland – was war das Land, was waren „wir“ alles?! Exportweltmeister, 4-facher Fußballweltmeister, Papst, und natürlich das Land der Dichter und Denker. Dann: Die Automobilindustrie. Innovationen. Technik. Made in Germany. Schlagworte, hinter denen sich eine überragende Erfolgsgeschichte verbirgt. Und heute? Eine Staatsverschuldung von über 2400 Milliarden Euro, Probleme, wohin man blickt, Atomkraft weg, Arme, die zur Suppenküchen gehen, Kinder, die in ihren Schulen vor verwahrloste Toiletten stehen - und eine Bahn, der die Kunden schon applaudieren, wenn die Toiletten wenigstens halbwegs funktionieren. Wer, wenn nicht „die Politik“ soll verantwortlich dafür sein, dass es mit Deutschland so massiv bergab geht, wie es derzeit zu beobachten ist?
Gottschalk trifft als erfahrener Entertainer das Komische sprachlich exakt. Das Publikum weiß, dass Gottschalk recht hat, und es versteht die Komik – aber es ist eingeschüchtert. Die Leute wollen lachen – wären da nicht die Hemmungen. Darf und soll über diesen Spruch gelacht werden? Diese Frage haben sich wohl viele im Publikum leise gestellt. Wie reagiert der von dem US-amerikanischen Soziologen George Herbert Mead sprachlich und analytisch erfasste „generalisierte Andere“? Wie reagiert die gesellschaftliche Gemeinschaft, in der ich mich im Publikum in einer Art losen Einheit befinde, auf Gottschalks Spruch? Darf ich zuerst reagieren? Meinen wahren politischen Gefühlen freien Lauf lassen? Was, wenn ich dadurch aus der Konformität der Gemeinschaft falle? Wie weitreichend werden die Konsequenzen sein? So betrachtet wird schnell deutlich, warum das Publikum 5 lange Sekunden gehemmt war: Alle wissen, dass Pluralismus in Deutschland nur noch als Lippenbekenntnis gepflegt wird. In Wahrheit ist Konformität gefordert und bei Abweichung drohen Sanktionen.
Präferenzverfälschung
Selbst in zumindest formal freien, demokratischen, pluralistischen Gesellschaften ist dieses auf Angst beruhenden Vermeidungsverhalten verankert. Der amerikanisch-türkischstämmige Politikwissenschaftler Timur Kuran hat sich vor einigen Jahren in einer brillanten Studie des Phänomens angenommen. Sein Buch heißt „Private Truths and Public Lies“, also „private Wahrheiten und öffentliche Lügen“. Kuran benennt das Phänomen als „Preference Falsification“, also als eine (bewusste) Präferenzverfälschung. Grob zusammengefasst: Bürger „fälschen“ ihre eigene politische Sicht in der Öffentlichkeit, um sich so vor feindlichen Reaktionen zu schützen.
„Die Präferenzverfälschung ist kompatibel mit allen politischen Systemen, von der erbarmungslosesten Diktatur bis hin zur liberalsten Demokratie“, schreibt Kuran. Das erste Kapitel seiner Studie trägt bezeichnenderweise den Titel: „Living a Lie“, „Eine Lüge leben“.
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die für jede demokratische Gesellschaft weitreichenden Implikationen aus Kurans Studie detaillierter zu besprechen. Einfache Logik lehrt aber: Je größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass Bürger bei freier Äußerung ihrer Meinung Repressionen in Kauf nehmen müssen, umso stärker werden ihre Antriebe sein, ihre eigene Meinung zu verfälschen - oder eben ganz den Mund zu halten.
Die Präferenzverfälschung – sie lag in der Sendung sekundenlag sichtbar im Raum. Wenn ein Publikum bei einem bei Lichte betrachtet harmlosen Spruch und im Schutze einer relativen Anonymität in der Masse so extrem unsicher und blockiert ist, stimmt etwas Grundlegendes nicht.
Auf dem Sofa bitte keine Staatskritik
Doch nicht nur das Publikum, auch die Gäste auf der Couch gilt es zu betrachten. Bastian Schweinsteiger, einer der ganz großen des Sports, lässt sich mit verschränkten Armen in die Couch zurückfallen, gerade so, als hätte ihn der Spruch umgehauen, aber auch: als ob er bewusst physische Distanz zu Gottschalk einnehmen wollte. Was wäre wohl gewesen, wenn „Basti“ Gottschalk für den Spruch den Arm um die Schulter gelegt hätte? Was wäre gewesen, wenn der Ex-Weltmeister gar selbst noch entsprechend unterstützend die Aussage Gottschalks kommentiert und die Kritik weitergedreht hätte? Wer das Gedankenspiel fortführt, weiß was kommt: Shitstorm im Blätterwald, das heißt irgendwas mit „Schwurbler“, „umstritten“, „spielt den rechten in die Karten“. Auch die anderen in dem Moment zu sehenden Gäste reagierten sehr zurückhaltend.
Was ist nur los mit der deutschen, angeblich so vom Geist der Demokratie beseelten Gesellschaft?
Demokratieillusion? Das geht zu weit!
Gerade findet in Trier ein Friedensfestival statt. Der Kulturdezernent der Stadt wollte zwei regierungskritische Künstler ausladen. Der Kabarettist Uli Masuth und der Liedermacher Jens Fischer Rodrian seien „Querdenker“, außerdem habe Rodrian gesagt, die Demokratie in Deutschland sei eine Illusion. Und? möchte man fragen. Wo ist das Problem? Diese Meinung zu vertreten ist legitim. Jeder Demokrat darf ihr beipflichten oder ihr widersprechen.
Aber eine derartige Ansicht zum Anlass zu nehmen, einen Künstler auszuschließen ist für ein angeblich lebendiges pluralistisches Gemeinwesen unerträglich. Der Politikwissenschaftler Ingolfur Blühdorn veröffentlichte vor 10 Jahren ein Buch, das den Titel trägt Simulative Demokratie - Neue Politik nach der postdemokratischen Wende. Erschienen ist es im Suhrkamp Verlag – nicht gerade als Frontverlag gefährlicher Staatsfeinde bekannt. Anders gesagt: Fragen nach dem Soll- und Istzustand westlicher Demokratien haben ihren festen Platz in der gesellschaftswissenschaftlichen Literaturgeschichte.
Herrschafts-, Staats- und Regierungskritik ist für die Demokratie das, was das Salz für die Erde ist. Auch Fundamentalkritik an Staat, Politik und Politiker gehört zur Demokratie. Der Geist, der dazu führt, dass ein SPD-Kulturdezernent im provinziellen Trier vor der geäußerten Demokratiekritik Fischer Rodrians zurückschreckt, lag auch in der Baden-Arena. Längst betrifft das Agieren der, wie Michel Foucault sie nannte, „diskursiven Polizei“ nicht mehr nur prominente Akteure. Der Geist, der den Pluralismus verabscheut, ist allgegenwärtig.
Die letzten Worte Gottschalks in der Sendung lauteten: „Und der zweite Grund ist, dass ich (…) immer im Fernsehen das gesagt habe, was ich Zuhause auch gesagt habe. Inzwischen rede ich Zuhause anders, als im Fernsehen – und das ist auch keine dolle Entwicklung. Und bevor hier irgendein verzweifelter Aufnahmeleiter hin und her rennt und sagt: Du hast wieder einen Shitstorm hergelabert - dann sage ich lieber gar nichts mehr.“
Lieber gar nichts mehr sagen – das ist dann der Totentanz der Demokratie. Es wird Zeit, dass die Mutigen wieder die Bühne betreten und sagen, was sie denken.
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